VERSTEHENBERATENBEGLEITEN

 
„Reverse Engineering“ nach dem GeschGehG grundsätzlich erlaubt?

Unter „Reverse Engineering“ wird meist der Versuch beschrieben, aus einem bestehenden fertigen System oder einem industriell hergestellten Produkt durch Untersuchung seiner Strukturen, Zustände und Verhaltensweisen dessen Konstruktionselemente zu extrahieren. Aus dem fertigen Objekt soll also sein Bauplan rekonstruiert werden. Damit wird eine originalgetreue Nachfertigung eines Objekts ermöglicht. Diese kann als Ausgangspunkt für eigene neue Weiterentwicklungen dienen. Wettbewerbsrechtlich wurde ein solches Vorgehen gegenüber einem konkurrierenden Marktteilnehmer nach den gesetzlichen Bestimmungen (§§ 17 ff. UWG) bislang überwiegend als unzulässig angesehen.

In einem früheren Beitrag wurden bereits der Schutzbereich und der Geheimnisbegriff des neuen Geschäftsgeheimnisschutzgesetz („GeschGehG“) erläutert. Als Geheimnis wird danach jegliche Information geschützt, welche die folgenden Kriterien erfüllt: Sie ist (1) weder allgemein bekannt noch ohne Weiteres zugänglich, (2) von wirtschaftlichem Wert, (3) Gegenstand von angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen und (4) es besteht ein berechtigtes Interesse an ihrer Geheimhaltung. Baupläne und Konstruktionsunterlagen können somit Geschäftsgeheimnisse darstellen oder enthalten. Das Gesetz enthält Handlungsverbote, die insbesondere den unbefugten Zugang, die unbefugte Aneignung und das unbefugte Kopieren von Dokumenten zum Erlangen eines Geschäftsgeheimnisses untersagen.
Ausdrücklich erlaubt in § 3 Abs. 1 Nr. 2 des GeschGehG sind allerdings:
„ein Beobachten, Untersuchen, Rückbauen oder Testen eines Produkts, das öffentlich verfügbar gemacht wurde oder sich im rechtmäßigen Besitz des Beobachtenden, [...] befindet und dieser keiner Pflicht zur Beschränkung der Erlangung des Geschäftsgeheimnisses unterliegt.“

 

Die beschriebenen Verhaltensweisen stellen demnach kein „unbefugtes“ Aneignen von Geschäftsgeheimnissen dar. Bedeutet dies nun, dass jegliche Verhaltensweisen ausnahmslos zulässig sind, die zu Beginn unter dem Schlagwort des „Reverse Engineering“ zusammengefasst wurden?

Die Frage ist zu bejahen, sofern es nicht eine Sonderbeziehung zwischen dem Inhaber des Geheimnisses und dem Besitzer des Produktes gibt. Die gesetzlich erlaubten Verhaltensweisen lassen sich nämlich zulässigerweise vertraglich ausschließen. Bei vorformulierten allgemeinen Geschäftsbedingungen ist zu beachten, dass ein vollständiger Ausschluss der gesetzlichen Regelungen mit dem wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes kollidieren und daher in einem Streitfall an der richterlichen Inhaltskontrolle scheitern könnte. Eine individualvertragliche Regelung mit dem jeweiligen Vertragspartner im Einzelfall vermeidet dieses Risiko.

Aus Sicht des Inhabers eines Geheimnisses empfiehlt es sich daher, in wettbewerblich sensiblen Kooperations- oder Zulieferverhältnissen bestehende Verträge auf diese Problematik hin zu prüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Jedem Unternehmen, das die vermeintliche neue Freiheit für seinen eigenen Erkenntnisgewinn nutzen möchte, ist anzuraten, vorab die rechtlichen Grundlagen und insbesondere die vertragliche Situation zu prüfen

Dr. Tilo Jung

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